Du bist ein Gott, der mich sieht

Der Heilige Geist - Ausschnitt aus einem Kirchenfenster der Johanneskirche zu Partenkirchen
Bildrechte Martin Dubberke

Liebe Gemeinde, wenn Sie dem zurückliegenden Jahr 2022 ein Motto geben könnten, wie lautete das wohl? Für viele von uns war es kein einfaches Jahr. Der Krieg, knappe Ressourcen, Klimawandel, Artensterben, politische Radikalisierung und Spaltung unserer Gesellschaft. Und dazu manche Sorge und mancher Konflikt im eigenen kleinen Leben. Manchmal ist es schwer, das alles auszuhalten, ohne schwermütig zu werden. Unser Blick zurück auf das zu Ende gehende Jahr prägt ja auch unsere Aussicht auf das Kommende. Jede versuchte Antwort ruft neue Fragen auf den Plan. Auch Fragen nach Gott, Fragen an Gott. Krankheit und Tod, Endlichkeit und Ohnmacht, Krieg und Schuld können wir schon lange nicht mehr als tragische Abweichung vom „Normalen“ begreifen. Sie toben sich aus in der Mitte des Lebens und rücken uns hautnah auf den Leib. Tagtäglich.

Erinnern Sie sich noch an die Jahreslosung für dieses Jahr 2022? Sie stammt aus dem Johannesevangelium:

„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“.

Jesus sagt das im Gespräch mit seinen Jüngern. Er verspricht das seinen Leuten, den Insidern, denen, die schon bei ihm sind und sich in seiner Nähe sicher fühlen:

„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.“

Heute, zum Jahreswechsel, kommen wir zu ihm, suchen seine Nähe. Die Jahreslosung des zu Ende gehenden Jahres meint Sie und mich, so wie wir auf dieser Schwelle zum neuen Jahr zu Christus kommen: Gezeichnet und zerrupft, erschöpft und ungeduldig, verunsichert und voller Zukunftsangst. Vielfach erschüttert im Glauben an das Gute, an den Menschen, an Gott. Genauso heißt Christus uns willkommen. Niemanden wirft er raus. Wir alle dürfen guten Gewissens hier sein, wie dürftig und zerrissen unser Glaubensleben auch sein mag. Eine tolle Zusage finde ich. Tröstlich für alle Zeiten, in denen wir uns gottverlassen fühlen auf dieser komplizierten Welt.

Trotzdem, die Zusage Christi setzt voraus, dass jemand sich auf den Weg macht.

„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.“

Aber was ist eigentlich mit denen, die längst nicht mehr kommen? Weil sie den Glauben an Gott für veraltet halten, oder weil die Kirche sie enttäuscht, verletzt oder gelangweilt hat? Weil andere Dinge ihnen im Leben mehr bedeuten als Spiritualität oder weil sie materiellen Wohlstand wichtiger finden als inneres, geistliches Reifen? Jede und jeder von uns kennt solche Menschen, vielleicht sind es die Liebsten in der eigenen Familie. Niemand will sie verurteilen, schlechtmachen oder ihnen gar Gottes Strafe androhen.

Stattdessen, liebe Schwestern und Brüder, möchte ich den Blick auf die Jahreslosung des kommenden Jahres richten. Ich habe mich gefreut, als ich sie gelesen habe. Denn es ist – nach langer Zeit zum ersten Mal – das Wort einer Frau, was uns durch das Jahr 2023 begleiten soll. Nein, nicht Worte einer Königin oder einer Anführerin oder berühmten Person, sondern der schlichte Satz einer Magd, der man übel mitgespielt hat.

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“,

so sagt sie, Hagar, die Magd Abrahams. Ihre Geschichte steht aufgeschrieben im 1. Buch Mose ab Kapitel 16 und lohnt sich sehr zu lesen. Eine Geschichte voller Lust und Frust, Eifersucht und Gewalt, Gefahr und Rettung. Ein echtes Beziehungsdrama. Aber eben auch eine Geschichte, in der Gott sich durch alle Dramen hindurch als rettender, freundlicher, gnädiger Gott zeigt.

Lassen Sie mich die Geschichte kurz skizzieren:

Abraham und Sara hatten die Verheißung erhalten, trotz ihres hohen Alters noch ein Kind zu bekommen. Doch es klappte und klappte nicht, jahrelang. Da tat Sara in ihrer Verzweiflung, was in solchen Fällen damals durchaus üblich war: Sie bat ihren Mann, mit der Magd Hagar zu schlafen um die Magd zu schwängern. Und dann wollte Sara das Kind als ihr eigenes annehmen. Antike Leihmutterschaft sozusagen. Nachkommen zu haben, das bedeutete damals in jedem Fall mehr als Moral oder Treue. Gesagt, getan. Hagar wird schwanger. Und sie lässt es Sara spüren: „Ha, ich bin im Gegensatz zu dir, fähig, einem Kind das Leben zu schenken. Mein Leib und Leben ist fruchtbar, im Gegensatz zu deinem!“ Saras Trauer verstärkt sich, sie hält es nicht mehr aus. Es kommt zu einem Eifersuchtsdrama zwischen den beiden Frauen. Der Streit eskaliert so, dass Hagar schließlich flieht. Eine echte Kurzschlussreaktion. Hagar haut ab in die Wüste. In eine absolut lebensfeindliche, gefährliche Umgebung. Eigentlich ihr sicherer Tod.

Das gibt es in psychischen Extremsituationen, dass jemand sein Leben aufs Spiel setzt, weil er oder sie es einfach nicht mehr aushält. Aber zugleich kann es in solchen Situationen unerwartet Rettung geben. Hagar, so erzählt die Bibel, begegnet dort in der Wüste einem Engel. Er spricht mit ihr, hört sich ihre Geschichte an, prophezeit ihr eine Zukunft – aber macht zur Bedingung, dass sie zurückgeht und sich dem Konflikt stellt. Abhauen ist und war nämlich noch nie eine Lösung. Zukunft gibt es nur in der Begegnung, so anstrengend und aufreibend die auch sein mag. Hagar erkennt das und sie bekennt:

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“

In dem Gespräch mit dem Engel, der vielleicht ja nur ein Fremder war, erkennt Hagar: Ich bin an-gesehen von Gott. Ich genieße höchstes An-sehen. In Gottes Augen bin ich wertvoll und wichtig. Er schenkt mir eine Perspektive, die über alle zwischenmenschlichen Konflikte weit hinausreicht. Das ist das Allerwichtigste.

Und so findet die Magd Hagar die Kraft, zurückzukehren zu Abraham und Sara. Ein Happy End ist das freilich noch lange nicht. Nach der Geburt des Ismael wird Sara schließlich auch noch schwanger. Sie schenkt Isaak das Leben. Und es geht nur kurze Zeit gut in dieser Dreiecks-Geschichte. Irgendwann schickt Abraham Hagar fort, zusammen mit ihrem Kind. Wieder geraten die beiden in die Wüste, wieder ist es brandgefährlich. Und wieder kommt jemand, der sie rettet, ihnen einen Brunnen zeigt und damit die Tür zur Zukunft aufstößt. Wieder ein Engel.

Sie haben einen kleinen Kalender bekommen mit einer Federzeichnung auf der Rückseite. Die stammt von einem der berühmtesten europäischen Maler des 17. Jahrhunderts, von Rembrandt (1606 – 1669) Mit wenigen schnellen Strichen hat er hier die Szene eingefangen. Links liegt das Kind am Boden, in der Mitte sind Hagar und ihr Retter zu sehen. Der Engel zeigt mit seiner Hand auf die Wasserquelle am rechten Bildrand.

Für Rembrandt scheint diese Geschichte eine der wichtigsten aus der Bibel gewesen zu sein. Über hundert (!) Darstellungen von diesem Motiv der Rettung Hagars haben er und seine Schüler im Lauf der Zeit angefertigt. Die Kargheit der spröden Federstriche auf weißem Grund entspricht der dürren, dürftigen Wüstensituation. Fast kann man Durst, Entbehrung und Hitze spüren beim Betrachten. Die Zeichnung ist im Original nur ca. 18 x 25 cm groß. Besichtigen kann man sie in der Kunsthalle Hamburg. 

Nun schenkt Ihnen die Pfarrerin zu Beginn des Jahres 2023 also eine Wüstenszene. Ja, ich tue das bewusst. Die Zeit der Fülle, des Dick-Auftragens, der vollmundigen Überzeugungen, der plakativen Sprüche ist für mich vorbei. Die momentane Welt-Situation ist fragil, mehr denn je gefährdet. Eine Zeit, in der die Menschheit bildlich gesprochen eher in der Wüste herumirrt als sich in einer fetten Oase zu laben. Auch 2023 werden wir Gefährdungen, Entbehrungen und Verzweiflung erleben. Auch im Neuen Jahr wird niemand den Schalter umlegen und alles wieder gut machen können. Unsere Sorge, unser Lebensdurst, unsere Bedürftigkeit werden uns auch im neuen Jahr begleiten, da bin ich ganz realistisch.

Aber es begleitet uns auch der Satz der Hagar:

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“

Auch wenn wir ratlos sind und eine fatale Ausweglosigkeit spüren. Auch wenn wir nicht mehr die Kraft haben, irgendwohin zu gehen, oder uns im Gebet an Gott zu wenden. Auch wenn wir längst abgeschlossen haben mit dem Glauben und mit der Hoffnung. Wenn wir uns einfach nur noch niederlegen und liegenbleiben und den Kopf in den Sand stecken möchten: Die Rettung ist nah. Gott sieht uns. Und plötzlich kommt ein Engel, der uns die Tür in die Zukunft wieder aufstößt. Er erinnert uns: Du bist nicht allein. Dein Schicksal ist noch nicht besiegelt. Dein Weg ist noch nicht zu Ende. Es soll weitergehen – und ich, dein Gott, werde bei dir sein. Denn ich bin ein Gott, der dich sieht.

Übrigens: Das gilt nicht nur für Kirchenmitglieder, für fromme Menschen oder Leute, die sich bewusst auf einen Weg der spirituellen Suche machen. Das gilt für alle, die Hunger haben nach Frieden, die sich sehnen nach Gerechtigkeit, deren Lebensdurst noch immer nicht gestillt ist. Es gilt für Außenseiter und Unwichtige, für Ausgebeutete und Ausgetretene, es gilt für Verzweifelte und Zweifelnde.

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“

Und sein Blick, der weiter ist als unsere Perspektiven, und sein Friede, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Pfarrerin Uli Wilhelm
Bildrechte beim Autor

Pfarrerin Uli Wilhelm

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