Vom Leichtsinn des Glaubens

Grabstein auf dem Friedhof Garmisch - Ausschnitt
Bildrechte Martin Dubberke

Liebe Gemeinde! Ich kann mich noch gut an den 90. Geburtstag meiner Großmutter erinnern. Die ganze Familie war zusammengekommen, meine Oma hob das Glas und sagte: "Ich dank meinem Herrgott, dass er mich hat so alt werden lassen. Jetzt hoff ich, dass er mich bald zu sich heimholt!" "Mei, die hat einen Glauben!" seufzte ihr jüngster Bruder. "Ich weiß nicht, ich kann's mir einfach nicht vorstellen, dass es einen Gott gibt. Wenn's Leben aus ist, dann ist es eben aus. Wenn ich mal gestorben bin, dann könnt ihr euch das ganze Brimborium sparen, mit Pfarrer und Kirche und Gebeten. Am liebsten wär's mir, wenn meine Asche einfach irgendwo in den Wind gestreut würde!"

Mich hat das beschäftigt, dass ein Bruder und eine Schwester aus einer Familie, die doch ähnliche Erfahrungen gemacht haben in ihrem Leben, und die schließlich gleich, in diesem Fall streng katholisch, erzogen worden waren, dass diese Geschwister also derart unterschiedliche Einstellungen haben können zum Glauben. Die eine tief verwurzelt, mit einem festen Platz für Gebet und Kirche in ihrem Leben und mit der Überzeugung, dass das Sterben ein Heimkommen zu Gott ist - der andere skeptisch, voller Zweifel über die Existenz Gottes und so sehr ohne Bezug zum kirchlichen Leben, dass er selbst eine christliche Beerdigung für sich ablehnt. Wie kann das sein? Warum ist der eine so geworden und die andere so? Wenn es nicht die Erziehung ist und auch nicht die Lebenserfahrung - was ist es dann, das bewirkt, dass ein Mensch glauben kann an Gott und der andere nicht?   

Es gibt eine Geschichte, die Jesus einmal erzählt hat - die ist wie eine Antwort auf diese Fragen. Ich lese sie Ihnen vor, aus dem 8. Kapitel im Lukasevangelium:  

Ein Bauer war aufs Feld gezogen, um die Saat auszuwerfen, und während er säte, fiel manches, was er gesät hatte, neben den Weg und wurde zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen die Körner. Andere Samen fielen auf felsigen Boden, und die Körner verdorrten, da es an Feuchtigkeit fehlte. Wieder andere Samen fielen unter die Dornen, da wuchsen die Stacheln zusammen, und die Körner erstickten. Auf guten Boden fielen die Samen auch und gingen auf und brachten hundertfach Frucht. Wer Ohren hat, höre!"

(Lk 8,5-8; Übersetzung Walter Jens)

Eine ganz alltägliche Begebenheit erzählt Jesus da.

Er hat ja oft vom Alltag geredet, wenn er etwas über Gott sagen wollte. Als wollte er sagen: "Ihr braucht nicht nach dem Heiligen, dem Außergewöhnlichen und Besonderen suchen, wenn ihr Gott erfahren wollt. Macht einfach nur die Augen auf und schaut auf das, was um euch her passiert! Dann geht euch etwas auf über Gott, mitten im Normalen, ihr werdet es sehen!"

Zum Alltag in Palästina gehörte es, dass die Bauern zu Fuß hinausgingen auf ihr Feld. Zum Säen hat man sich ein Tuch umgebunden, geknotet über der Schulter, schräg über den Oberkörper verlaufend. Darin das kostbare Saatgut. So schritt der Bauer sein Feld regelmäßig auf und ab, immer im gleichen Tempo. Alle paar Schritte greift seine Rechte hinein in das Tuch, nimmt eine Handvoll Körner auf und wirft sie hinaus, schwungvoll ausholend in einem weiten Bogen. Eine Bewegung, fast wie ein Tanz! Sich seinem eigenen Rhythmus überlassen und in dynamischer, großzügiger Bewegung etwas Wertvolles loslassen - das ist Säen.

Dazu gehört das Vertrauen, dass schon etwas wachsen wird. Selbst wenn der Bauer auf seinem Feld Disteln entdeckt oder eine besonders steinige Ecke, selbst wenn er Wolken aufziehen sieht und der Wind plötzlich stärker weht, selbst wenn da schon die Krähen in einem Baum sitzen und nur darauf warten, endlich ungestört die frisch ausgestreuten Leckerbissen aufpicken zu können - der Bauer macht weiter, unbeirrt, Schritt für Schritt. Nicht seine Angst leitet ihn, sondern die Zuversicht, dass schon genug wachsen wird für eine gute Ernte. Leichten Sinnes, leicht-sinnig, glaubt er an das, was er tut. Er weiß, dass ein Korn, das in der Erde aufgeht, vielfache Frucht bringt. Deshalb macht es nichts, wenn andere Körner verloren gehen. Er gibt die Körner frei, überlässt sie sich selbst und ist ohne Groll, wenn nicht alle den von ihm vorgesehenen Weg gehen. Es wird schon alles seine Ordnung haben, so, wie es ist. Zufrieden geht er nach getaner Arbeit nach Hause.

Die Leichtsinnigkeit, die Gelassenheit des Bauern ist faszinierend. In meinem Leben gibt es ja auch manches, was ich säe, was ich gerne aufgehen und wachsen lassen möchte, was ich mir so vorstelle für mich persönlich, meine Kinder und Enkel oder für unsere Gemeinde. Es gibt Dinge, die sehe ich gerne wachsen – Erfolg, Vertrauen, Zuversicht, Glaube, Rücksichtnahme und Achtsamkeit. Und es gibt eine Saat, von der will ich auf gar keinen Fall, dass sie aufgeht – Gewalt, Druck, Misstrauen, Gefühlskälte, Verschwörungstheorien. Natürlich bilde ich mir nicht ein, dass ich es bin, die den Samen zu diesem oder jenem Wachstum letztlich legt. Trotzdem habe ich - in begrenztem Maße - die Möglichkeit, manche Dinge anzulegen, manche Pflänzchen zu fördern. Mit der Gelassenheit, wie der Bauer sie an den Tag legt, ist es bei mir freilich oftmals nicht sonderlich weit her. Oft versuche ich, etwas zu erzwingen und meine, es liegt allein an mir, ob etwas gelingt oder nicht.

Und dann schaue ich auf die Anfänge unserer Religion und staune. Jesus hat gelassen, unbeirrt und zuversichtlich ausgesät. Seine Saat war die Botschaft von einem liebenden, nahen Gott. Unbeirrt und geduldig hat er diese Botschaft verbreitet, auch wenn er auf Widerstände gestoßen ist und die Anfänge alles andere als vielversprechend waren:

Ein Häuflein von Jüngerinnen und Jüngern, zögernde, verunsicherte Leute: der Zweifler Thomas, der Feigling Petrus, Frauen, die niemand für voll genommen hat - auf dieses Häuflein elender Menschen setzt Jesus seine Hoffnung! Was muss das für eine große Zukunftshoffnung sein, wie sehr muss einer getragen sein von Vertrauen und Optimismus, wenn er ein paar Freunden und Freundinnen zutraut, hinzugehen in alle Welt und alle Völker sein Evangelium zu lehren!

Klar, überall konnte der Same nicht aufgehen. Das hat Jesus erlebt. Manche Leute hörten ihm zu und waren hingerissen - im ersten Moment jedenfalls. Doch ihre Begeisterung blieb oberflächlich. Schnell verwandelte sie sich in Enttäuschung und Hass.

Andere waren zunächst fasziniert von der Botschaft. Von einer großen Volksmenge erzählt die Bibel, die immer wieder zusammenkam, um Jesus zu hören. Bestimmt waren viele darunter, denen seine Botschaft zu Herzen ging. Aber wer sein Leben neu ausrichten will, der braucht Substanz. Er oder sie braucht aus der Tiefe heraus immer wieder Kraft und Nahrung, wie eine Pflanze, die aus dem Inneren des Erdreichs heraus ihren Lebenssaft zieht. Wenn dort unten, an der Basis, zu viel verhärtet ist, wenn der innere Grund fest zementiert ist wie ein Fels, dann wird der Mensch unbeweglich, selbst wenn er eigentlich fühlt, dass sein Leben eine neue Richtung nehmen könnte. Menschen mit einer allzu festgefügten Lebenshaltung, mit starren Regeln und Mustern, solche Menschen haben sich immer schwer getan mit dem Evangelium.

Wieder andere aus der großen Schar, die Jesus kennengelernt haben, waren schlichtweg zu beschäftigt mit der Bewältigung ihres Alltags, als dass die christliche Botschaft ihr Leben wirklich hätte erreichen können. Wer viele Kinder zu ernähren oder Existenzsorgen hatte, den nahm der tägliche Kampf so gefangen, dass einfach kein Raum dafür blieb, Neues wachsen zu lassen. Was Jesus zu sagen hatte, das brauchte Platz, Zeit zum Nachdenken, Raum für Gespräche, die Möglichkeit, sich einmal auf einen neuen Gedanken einlassen zu können. Jemand, der schier erstickt wird von den Sorgen des Alltags, der hat diese Freiheit nicht. Das Leben ist für so einen Menschen wie von Dornengestrüpp zugewuchert.

Doch Bibel berichtet eben auch von Leuten, die der Kontakt mit Jesus tief und dauerhaft verändert hat. Fischer, die alles liegen und stehen ließen, um ihm als seine Jünger nachzufolgen. Frauen, die fasziniert und begeistert waren und seine Jüngerinnen wurden.

Oftmals ist die Saat ausgerechnet bei Menschen aufgegangen, von denen es keiner erwartet hätte: Es gab Betrüger, die ihr Leben änderten auf ein Wort Jesu hin. Kranke, die sich anrühren ließen von ihm und geheilt wurden. Ängstliche, die durch eine Begegnung mit Jesus plötzlich Mut und Selbstvertrauen gewannen. Verzweifelte, die von ihm seliggepriesen und so zu einem neuen Selbstbewusstsein hingeführt wurden. Die Reihe derer ist lang, bei denen ein kleines Saatkorn Jesu heranwuchs zu einer stattlichen Pflanze, die vielfache Frucht trug. Ich stelle mir vor, es hat Jesus gefreut, das zu sehen - so, wie es einen Bauern freut, wenn die Saat aufgegangen ist und die Ernte reich war und seine Arbeit sich gelohnt hat.

Warum glauben die einen und die anderen nicht? Die Geschichte vom Sämann wurde von Anbeginn als Antwort Jesu verstanden auf dieses Geheimnis. Klar, dachte man, so wie der Boden unterschiedlich fruchtbar ist, so sind auch Menschen unterschiedlich aufnahmefähig für Gottes Wort. Da gibt es eben die Oberflächlichen ohne Tiefgang; es gibt die Verhärteten, im Herzen verstockten; es gibt Menschen, die von Sorgen zugewuchert und schier erstickt werden - und dann, dann gibt es schließlich noch die Guten, Offenen, Aufnahmebereiten.

Doch – hat Jesus diese Geschichte wirklich so gemeint? Ich glaube nicht. Eine Unterteilung der Menschen in vermeintlich Gute und Böse, in Fromme und Ungläubige, in Kinder Gottes und Verlorene hat er doch immer abgelehnt. Er hat Geschichten erzählt, in denen es gerade die Verlorenen sind, die am Ende gewinnen. Er hat sich doch in der Regel gerade nicht mit den frommen Insidern der Gesellschaft abgegeben, sondern er ist mit dem sogenannten Abschaum zusammengesessen. Denen, die ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie einen Fehler gemacht hatten, hat Jesus Vergebung zugesagt. Den anderen, die von sich dachten, mit einer weißen Weste zu leben, makellos, hat er ins Gewissen geredet und ihre Selbstgefälligkeit verunsichert. Die gängigen religiösen Unterteilungen in gut und böse, rein und unrein, gerettet und verloren hat Jesus aufgelöst. Wie sollte er da eine Geschichte erzählen, in der die Herzen der Menschen nach vier Kategorien unterteilt werden?

Vor Jahren führte ich einmal ein Gespräch über diese Bibelgeschichte mit einer Bäuerin. Sie hatte große Erdbeerfelder im Osten von München. "Als Bäuerin hast du den ganzen Kreislauf vor deinen Augen", sagte sie. "Säen und Ernten ist ja nicht das einzige, was du tust. Im Herbst, da wird umgeackert und im Winter liegt der Acker da und hat seine Ruhe. Im nächsten Jahr geht's wieder neu los - und dann kann es sein, dass auf einmal an ganz anderen Stellen die Disteln aufgehen. Auch die Schnecken sind nicht jedes Jahr gleich schlimm und die Vögel. Dass das Wetter dazu eine große Rolle spielt, ist sowieso klar. Vielleicht hat Jesus ja sagen wollen: Wenn's heuer nicht klappt, dann eben nächsten Jahr. Es liegt nicht nur an dir, ob der Same aufgeht. Es gibt auch Umstände, die es leicht oder eben schwermachen. Und es gibt immer wieder eine neue Chance. So wie der Acker erlebst du ja auch als Mensch ganz verschiedene Zeiten, wirst manchmal umgeackert und aufgewühlt, bist einmal aufnahmebereit und fruchtbar - und dann eben wieder kalt und hart. Das gehört alles dazu."

Und die Bäuerin erzählte mir, dass sie ganz am Ende der Erdbeersaison, wenn das Feld eigentlich schon abgeerntet ist, immer noch besonders schöne Früchte findet, in den Distelecken. Die Dornen schützen die Erdbeeren vor Schnecken und Vögeln und vor dem zu schnellen Zugriff der Erntenden. So haben sie Zeit zum Reifen und werden ganz besonders groß und süß. "Ein Geheimtipp!" lachte sie.

Im Gespräch mit ihr habe ich das Gleichnis vom Sämann neu verstanden. Nicht vier verschiedene Menschentypen, drei schlechte und einen guten, hat Jesus gemeint mit dem vierfachen Ackerfeld. Von Gott hat er vielmehr geredet. Er lässt seine Sonne aufgehen über Gerechte und Ungerechte. Das Unkraut und den Weizen lässt er zusammen aufwachsen. Felsen und Disteln, Vögel und Würmer, Wind und Regen, fruchtbare Erde und trockenes Land hat er gemacht. Wo etwas unfruchtbar und dürr ist, schenkt Gott erst recht Zeit und Geduld. Unbeirrbar und voller Vertrauen, dass etwas Gutes wächst, streut Gott großzügig seine Saat aus.

Da denke ich wieder an den Bruder meiner Oma, der von sich behauptet hatte, nicht an Gott zu glauben. Ein paar Jahre später ist er in einem christlichen Hospiz gestorben. Kurz vor seinem Tod hat er plötzlich den Wunsch geäußert, eine christliche Beerdigungsfeier zu bekommen. Ob in diesem Wunsch wirklich eine Wendung lag, hin zum Glauben, das weiß ich nicht. Vielleicht hat er ja auch nur seinen Verwandten einen letzten Gefallen tun wollen. In das Herz eines Menschen können wir nicht hineinblicken. Aber ich stelle mir vor, dass Gott es kann. Er kennt die Geheimtipps der Bäuerinnen. Und so greift er behutsam hinein in die zu gewucherten, dornigen Ecken und zieht wunderbare, süße Früchte daraus hervor. Wahrscheinlich freut er sich über diese Früchte ganz besonders.

Und sein Friede, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

                                                                                                    

Pfarrerin Uli Wilhelm

Predigt am 06./07.02.2021 (Sexagesimae)

in Farchant, Garmisch, Grainau und Partenkirchen

Predigttext: Lukas 8,4-8

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