Nach vorne blicken - Predigt am 3. Sonntag nach Epiphanias

Pfarrerin Uli Wilhelm
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Liebe Gemeinde, es gibt viel Sehnsucht zurzeit nach Geschichten, die gut ausgehen. Kranke, die wieder gesundwerden, Verschwörungstheoretiker, die wieder zur Vernunft finden, Betriebe, die neue Ideen entwickeln und so die Krise überstehen. Hoffnungsgeschichten sind das, die uns gut tun angesichts hoher Infektionszahlen, schrecklicher Todesfälle und angesichts der Einschränkungen, die wir hinnehmen müssen.

Unser heutiger Predigttext erzählt auch eine Hoffnungsgeschichte. Allerdings beginnt sie mit einer Katastrophe. Mit Hunger und Leid, Migration und Assimilation und mit viel Sterben und Tod. Später verwandelt sich diese Schreckensgeschichte in eine Geschichte von Liebe und Treue von Heimat und Wurzeln, von Festhalten, Loslassen und Neu Anfangen. Aber lesen wir zunächst einmal den Anfang.

Ich lese aus dem Buch Rut im Alten Testament im ersten Kapitel:

Zu der Zeit … entstand eine Hungersnot im Lande. Und ein Mann von Bethlehem in Juda zog aus ins Land der Moabiter, um dort als Fremdling zu wohnen, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. Der Mann hieß Elimelech und seine Frau Noomi und seine beiden Söhne Machlon und Kiljon; die waren Efratiter aus Bethlehem in Juda. Und als sie ins Land der Moabiter gekommen waren, blieben sie dort. Und Elimelech, Noomis Mann, starb, und sie blieb übrig mit ihren beiden Söhnen. Die nahmen sich moabitische Frauen; die eine hieß Orpa, die andere Rut. Und als sie ungefähr zehn Jahre dort gewohnt hatten, starben auch die beiden, Machlon und Kiljon. Und die Frau blieb zurück ohne ihre beiden Söhne und ohne ihren Mann.

Aus Bethlehem, übersetzt „Haus des Brotes“, stammt die Familie des Elimelech. Doch der Name hält nicht, was er verspricht: Elimelech, seine Frau Noomi und ihre beiden Söhne haben kein Brot. Sie machen sich auf nach Osten, jenseits des Toten Meers, ins Land der Moabiter, weil sie sich dort ein besseres Leben versprechen. So wie sich viele, viele Menschen seither aufgemacht haben, ihre Heimat verlassen und unter Mühen und Gefahren versucht haben, sich in der Fremde ein neues Leben aufzubauen. Klassische Wirtschaftsflüchtlinge also.

Doch das neue Leben in mehr Wohlstand ist keine Garantie auf Glück: Noomis Mann stirbt. Die Hoffnung zerbricht, dass die beiden in der neuen Heimat ihr Glück finden und gemeinsam alt werden können. Gut, dass da immerhin noch die beiden Söhne sind, im heiratsfähigen Alter – und dass es Aussicht gibt auf eine neue Generation und neue Aufgaben. Die Söhne heiraten moabitische Frauen, Orpa und Rut, und alle hoffen, dass das Leben nun endlich in ruhigeren Bahnen verläuft. Aber das Schicksal schlägt noch einmal grausam zu: beide Söhne sterben. Noomi steht vor den Trümmern ihres Lebens: Die Heimat verloren, den Mann, die Kinder. Alles weg. Kein Boden mehr unter ihren Füßen. Nur noch Trauer, Schmerz und bestimmt auch die Frage nach dem Warum. Warum ich? Was habe ich getan, dass ich so gestraft werden? Wie kann ich jetzt überhaupt noch weiterleben? Wohin mit mir?

Fragen, die Menschen auch heute umtreiben. Wenn sie einen geliebten Angehörigen verlieren. Wenn Depressionen einen verzweifeln lassen. Oder wenn alles zusammenbricht, was man sich erhofft und aufgebaut hat – und man plötzlich vor den Trümmern seines Lebens steht.

Hören wir, was Noomi tut in dieser schwierigen Situation:

Noomi machte sich auf mit ihren beiden Schwiegertöchtern und zog aus dem Land der Moabiter wieder zurück; denn sie hatte erfahren im Moabiterland, dass der HERR sich seines Volkes angenommen und ihnen Brot gegeben hatte. Und sie ging aus von dem Ort, wo sie gewesen war, und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr.

Noomi hat also gehört, dass die Hungersnot in Bethlehem inzwischen überstanden ist und es wieder Brot gibt dort. Da wächst die Sehnsucht nach der Heimat. Sie macht sich auf, um zurückzukehren ins Land ihrer Jugend. Da wird es noch Verwandte geben, denkt sie, oder alte Freundinnen. Da werde ich neu anfangen können, irgendwo. Ich muss weg von diesem Land Moab, das so viel Leid über mich gebracht hat. Ich brauche Distanz zu all dem Schweren. Ich muss weg. Ich will heim. So geht sie los, begleitet von ihren beiden Schwiegertöchtern. Unüblich, dass eine Frau sich allein auf eine so weite Reise macht. Doch was hat sie noch zu verlieren? Nach solchen Schicksalsschlägen setzt man sich leicht über Konventionen hinweg. Durchaus üblich war es allerdings, dass man einen Besuch noch ein Stück des Weges geleitet hat. Deshalb gehen die Schwiegertöchter, Orpa und Rut, erst einmal mit.

Ich lese weiter:

Und als sie unterwegs waren, um ins Land Juda zurückzukehren, sprach sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern: Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter! Der HERR tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt. Der HERR gebe euch, dass ihr Ruhe findet, eine jede in ihres Mannes Hause! Und sie küsste sie.

Auch das war üblich: dass eine Witwe im Haus ihres Mannes blieb, dort mitarbeitete und auch versorgt wurde. Manchmal gab es Brüder oder Vettern, die diese Frauen dann heirateten, meist blieben sie aber als eine Art Magd im Haus, ohne Ansprüche und Rechte, mehr oder weniger geduldet.

Orpa und Rut stehen jetzt vor einer schwierigen Entscheidung: Zurückkehren in die Familien ihrer verstorbenen Männer? Oder das Abenteuer wagen und mitgehen mit der Schwiegermutter? Was tun?

Hören wir, wie die Entscheidung fällt:

Opra und Rut erhoben ihre Stimme und weinten und sprachen zu Noomi: Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen. Aber Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten? Kehrt um, meine Töchter, und geht hin; denn ich bin nun zu alt, um wieder einem Mann zu gehören. Und wenn ich dächte: Ich habe noch Hoffnung!, und diese Nacht einem Mann gehörte und Söhne gebären würde, wolltet ihr warten, bis sie groß würden? Wolltet ihr euch einschließen und keinem Mann gehören? Nicht doch, meine Töchter! Mein Los ist zu bitter für euch, denn des HERRN Hand hat mich getroffen.

Da erhoben sie ihre Stimme und weinten noch mehr. Und Orpa küsste ihre Schwiegermutter zum Abschied. Rut aber ließ nicht von ihr. Noomi sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach.

Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden. Als sie nun sah, dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden. So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen.

Die beiden Schwiegertöchter Noomis gehen also verschiedene Wege: Orpa wird ihrem Namen gerecht – der bedeutet nämlich: „Die, die einem den Rücken zukehrt“. Sie entscheidet sich, in ihr Land zurück zu gehen, ins Vertraute, Gewohnte, Sichere.

Für Rut ist etwas anderes wichtig: Ihr Name könnte sich herleiten vom hebräischen Substantiv רְעוּת rə‘ût, das heißt Freund, Begleiter oder auch Freundschaft. Die Beziehung zu ihrer Schwiegermutter ist für Rut offenbar bedeutsamer als alle Heimatgefühle, alles Vertraute. Erstaunlich eigentlich. Denn weiß Gott nicht immer ist die Beziehung zwischen Schwiegertochter und Schwiegermutter so innig, dass die eine der anderen verspricht:  Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden; nur der Tod wird mich und dich scheiden.  

Brautpaare wählen diese Worte häufig als Trauspruch. Und die Formel „bis der Tod euch scheidet“ hat ja sogar Eingang in unsere Trau-Liturgie gefunden. Rut verkörpert große Treue und unbedingte Loyalität – selbst im Angesicht existentieller Schwierigkeiten. Das ist das ganz Erstaunliche. Noomi klagt: des HERRN Hand hat mich getroffen. Offenbar ist sie überzeugt, dass ihr Schicksal von Gott so gewollt und gelenkt wurde. Da würde man doch verstehen, wenn jemand mit diesem Gott nichts mehr zu tun haben wollte. Aber das Gegenteil ist hier der Fall: Dein Gott ist mein Gott, sagt Rut zu ihr. Der, dessen Hand unsere Männer hat sterben lassen, ist und bleibt dennoch unser Gott – und zwar bis zu unserem eigenen Tod. An Hiob erinnert mich das: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt. Was für eine Ergebenheit ins Schicksal und in die Pläne Gottes.

Ist das nicht naiv? Oder sogar dumm? Ja, auf den ersten Blick vielleicht. Und doch erzählt das Buch Rut, wie erstaunlich die ganze Geschichte dann weitergeht. Zurück in Bethlehem wendet sich nämlich das Schicksal der beiden Frauen. Mit Unterstützung und ein wenig weiblicher List Noomis wird nämlich eine wunderbare Liebesgeschichte eingefädelt zwischen Boas und Rut. Die beiden heiraten und führen eine glückliche Ehe. Rut bekommt einen Sohn, der Obed heißt, der wiederum zeugt Isai, den Vater des späteren Königs David. Die Moabiterin Rut wird somit zur Urgroßmutter des bedeutsamsten Israelitischen Königs. Die Ausländerin wird zu einer Wurzel, aus der viel Gutes für das Volk Israel erwächst. Und wenn wir dem Stammbaum trauen, der am Anfang des Matthäusevangeliums erzählt, wird, stammt Jesus ja aus dem Hause und Geschlechte Davids. Somit ist Rut eine Vorfahrin Jesu Christi – und damit auch für unseren Glauben bedeutsam.

Das anfangs so schreckliche Drama aus Hunger, Flucht und Todesfällen hat sich am Ende also verwandelt in eine Heilsgeschichte. Es gibt ein Happy End nach all den Irrungen und Wirrungen des Lebens. Das Buch Rut erzählt – spannend wie ein Roman – davon, wie das Schicksal sich wenden kann. Und dass wir, während wir mitten drin stecken in einer Lebenskrise, niemals schon ihren Sinn oder ihre Bedeutung erkennen können. Erst im Nachhinein, manchmal vielleicht erst nach Generationen, wird deutlich, dass sich die schrecklichsten Dinge eben doch verwandeln können in Gutes und Heilsames.

Ja, wir leiden im Moment unter Corona. Niemand von uns hätte sich das gewünscht oder ausgesucht. Und wer selbst schwer erkrankt ist, einen lieben Angehörigen verloren hat oder finanziell vor dem Ruin steht, der oder die wird dieser Krise nichts Gutes abgewinnen können. Aber vielleicht schaffen wir es doch, uns von Rut etwas abzuschauen: Nach vorne blicken. Das Abenteuer annehmen. Gott dabei die Treue halten. Und in Zuversicht darauf vertrauen, dass wir am Ende gestärkt aus dieser schwierigen Zeit hervorgehen werden. Gott wird auch dieser Geschichte ein Happy End verleihen. Und sein Friede, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Uli Wilhelm

 

Predigt am 24.01.2021 (3. Sonntag nach Epiphanias) in Grainau und Partenkirchen

Predigttext: Rut 1,1-19a

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