Liebe Geschwister, am Mittwoch stand im Konfi das Thema Reformation auf der Tagesordnung. Das bietet sich ja auch in einer Woche, in der wir den Reformationstag feiern förmlich an. Und als ich mich auf diese Einheit vorbereitete, stellte ich mir die Frage, ob die Konfis überhaupt die 95 Thesen kennen? – Die gleiche Frage kann ich Euch heute auch stellen, ob Ihr die 95 Thesen kennt oder wann Ihr sie zum letzten Mal gelesen habt. Na, wer von Euch hat sie gelesen? – Also, unsere Konfis kennen sie nun, denn ich habe die Thesen alle ausgedruckt und mit in den Konfi gebracht. Jeder musste eine These vorlesen. Wir haben insgesamt drei Leserunden gebraucht, bis wir durch waren.
Was war der Effekt? - Erst Gähnen, dann Fragezeichen. Vieles fremd, vieles kaum relevant für sie, vieles in einer Sprache, die nicht zu ihnen spricht. Tja, und dann sollten sie in Gruppen ihre eigenen Thesen aufschreiben und damit ihre Wünsche zur Kirche von heute, wie ihnen Kirche gefallen würde und Kirche auch ihre Kirche wäre. Das war der Moment, in dem für unsere Konfis Kirche lebendig wurde.
Manche Ihre Thesen oder besser Wünsche lassen einen Schmunzeln und manchmal lachen. Sie sind an keiner Stelle langweilig und sie lassen zugleich tief in manche Sehnsucht blicken, die unsere jungen Menschen haben. Ich nenne einfach nur ein paar Beispiele, die mit Sicherheit auch gleich bei Euch Heiterkeit auslösen werden, aber ich finde sie alle richtig gut, und ich werde Euch auch gleich sagen warum.
Mehrere Gruppen wünschten sich eine Couch oder Kinosessel in der Kirche. Andere schlugen vor, dass es eine Sitzheizung für Pensionierte geben solle und vor allem, dass die Sitzmöglichkeiten für Menschen, die eine Gehbehinderung haben oder nicht mehr so beweglich sind, besser würden, eine rentnerfreundlichere Ausstattung der Kirche.
Sie wünschten sich zwei Sonntagsgottesdienste – einen normalen und einen, der nur eine viertel Stunde dauert. Sie wünschten sich mehr Kinderfreundlichkeit – also eine leichtere Sprache. Sie sagten auch, dass die Jugend mal als Chor singen könnte. Sie wünschten sich regelmäßige Mitmachgottesdienste und Kuchen zum Abendmahl und jedes Mal nach dem Gottesdienst Kaffee, Tee, Kakao und Kekse. Sie wünschten sich spannende Musik, eine freie Kühltheke am Eingang und eine Snackschublade, sowie Lademöglichkeiten für das Handy in den Kirchenbänken, Nachtgottesdienste mit Lichtershows, ansprechendere Themen für die Jugend und eine Murmelbahn in Kinderraum, weil der ja für Kinder so totlangweilig sei. Und sie wünschten sich warme Mahlzeiten für arme Menschen.
Ihre „Thesen“ handeln von warmen Kirchen und bequemen Sitzmöglichkeiten, von Aktionen der Nächstenliebe, von Zugänglichkeit und Toleranz, von Mitmachgottesdiensten und Kinderfreundlichkeit, von Snackschubladen im Eingangsbereich und Nachtgottesdiensten mit Lichtershow.
Auf den Punkt gebracht: Unsere Konfis wünschen sich Kirche, wie sie wirklich bei den Menschen ankommt. Kirche, die füreinander da ist. Kirche, die auch Freude macht, die tröstet, wärmt und überrascht.
Unsere Konfis machen mit wenigen und einfachen Stichworten deutlich, was uns alle hier und heute miteinander verbindet – Evangelisch und Katholisch, Alt und Jung, Konfis und Erwachsene – was uns verbindet, ist mehr als eine Tradition. Es ist das gemeinsame Fragen, das gemeinsame Feiern, das gemeinsame Suchen nach Wegen, wie Kirche ihre Aufgabe heute und morgen erfüllt.
Die Thesen, die Luther 1517 an die Kirchentür geschlagen hat, waren wichtig und auch richtig. Sie haben den Finger auf eine wunde Stelle gelegt. Sie haben wieder in die Mitte gerückt, was im Zentrum der christlichen Botschaft steht, nämlich den einen Gott, den einen Gott, der uns Menschen liebt, der uns vergibt, der gnädig zu uns ist und uns miteinander verbindet.
Ich habe vor diesem Hintergrund gerade heute Morgen etwas sehr Schönes bei Dietrich Bonhoeffer gelesen. Es stammt aus seiner Predigt zum Reformationsfest 1932:
Glaube, Buße heißt Gott Gott sein lassen - auch in unserem Tun, gerade in unserem Tun ihm gehorsam sein.
„Tu die ersten Werke“ - wie nötig ist es, das heute zu sagen. Keiner, der die heutige Kirche kennt, wird sich darüber beklagen wollen, daß die Kirche nichts tue. Nein, die Kirche tut unendlich viel, auch mit viel Aufopferung und Ernst; aber wir tun alle eben so viel zweite, dritte und vierte Werke, und nicht die ersten Werke, Und eben darum tut die Kirche das Entscheidende nicht. Wir feiern, wir repräsentieren, wir erstreben Einfluß, wir treiben evangelische Jugendpflege, wir tun Wohlfahrtsdienste und Fürsorge, machen Anti-Gottlosenpropaganda - aber tun wir die ersten Werke, um die schlechthin alles geht? Gott lieben und den Bruder lieben mit jener ersten, leidenschaftlichen, brennenden, alles - nur Gott nicht– aufs Spiel setzenden Liebe?
Bonhoeffer, DBW 12, 429f
Bonhoeffer bringt mit einem einzigen Satz das auf den Punkt, wofür Luther 95 Thesen braucht:
Glaube, Buße heißt Gott Gott sein lassen - auch in unserem Tun, gerade in unserem Tun ihm gehorsam sein.
Gott gehorsam zu sein. In Gehorsam steckt das Wort „hören“ und hören spielt im heutigen Predigttext eine große Rolle.
Höre, Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
5. Mose 6,4
Dieser Satz – das Sch'ma Jisrael – ist das Bekenntnis Israels. Jesus hat ihn selbst zitiert als das höchste Gebot. Seit mehr als 3000 Jahren klingt er durch die Generationen, von Lippen zu Ohren, von Herzen zu Herzen.
Er steht im Buch Deuteronomium, am Ende der Wüstenwanderung. Ein Volk, befreit aus Sklaverei, steht an der Schwelle in ein unbekanntes, verheißungsvolles Land. Sie wissen: Es wird nicht einfach. Neue Nachbarn. Fremde Mächte. Vieles, was sie verunsichern wird.
Da spricht Mose: Haltet euch fest an diesem einen: Gott ist einer, und ER ist treu. Alles andere ist zweitrangig. Hört hin. Bleibt aufmerksam für Gottes Wort. Liebt mutig und mit ganzem Herzen.
Wie klingt dieses alte „Höre“ in den Ohren einer Gemeinde heute? In unseren Ohren, hier in der Johanneskirche, an diesem Reformationstag – und anders als früher: ökumenisch, gemeinsam, evangelisch und katholisch, einander zugewandt. Macht das nicht deutlich, dass uns nichts voneinander trennen kann, weil wir miteinander an den EINEN Gott glauben, den EINEN Gott in seiner Dreifaltigkeit bekennen?
Es geht heute mehr denn je um den Dreiklang von: Glauben. Versöhnen. Gestalten.
Im Glauben finden wir Orientierung.
Orientierung ist heute knapp. Wohin wir blicken: Brüche, Unsicherheit, Stimmengewirr.
Glaube meint nicht das starre Festhalten an Gewohnheiten oder alten Mauern, sondern Vertrauen darauf, dass Gottes Liebe bleibt – auch wenn um uns und in uns alles in Frage steht.
Das „Höre, Israel“ ist ein Einladung: Halte inne. Lausche. Lass dich unterbrechen von Gottes Wort. Wir hören es gemeinsam, evangelisch wie katholisch, mit den unterschiedlichen Melodien unserer Herkunft und der gemeinsamen Vergangenheit, weil wir aus einer Wurzel stammen.
Wenn wir heute den alten Ruf hören – Höre, Israel! –, bekommen wir die Orientierung nicht nur aus der Vergangenheit. Wir brauchen sie auch heute, wenn Jugendliche fragen: Wo ist der Platz für mich? Wo finde ich Wärme – nicht nur auf der Couch, sondern im Miteinander?
Glaube ist der Anfang – es ist die Ermutigung, in diese Kirche zu gehen, sie zu feiern, zu kritisieren, mitzugestalten. Es ist die Offenheit, auch ungewöhnliche Wünsche als Zeichen des Glaubens zu sehen, weil Gott immer bei den Menschen wohnt – und weil Kirche Raum geben soll für alle.
In der Versöhnung wachsen wir zusammen.
Was uns trennt, ist oft lauter als das, was verbindet. Wir schauen auf die Geschichte unserer Kirchen – da ist viel Trennung, Spaltung, Schmerz. Aber auch die Sehnsucht, wie sie Jesus seinem Vater gegenüber in Johannes 17,21 ausspricht:
„…, dass sie alle eins seien...“
Unser Gottesdienst heute ist ein Zeichen: Wir lassen uns nicht gefangen nehmen von der Angst vor dem Anderen. Wir trauen der Kraft der Versöhnung mehr zu als alten Fronten.
Im Versöhnen entdecken wir neu, wie weit Gottes Liebe reicht. Sie reicht weiter als all unsere Gräben.
Versöhnung ist keine bequeme Sitzheizung, sondern oft anstrengend. Die Konfis sagen: Jung und Alt mischen! Rücksicht nehmen auf andere! Das ist Versöhnung im Alltag.
Versöhnung heißt, dass wir nicht an alten Mustern festhalten, sondern aufeinander zugehen, auch wenn Persönlichkeiten, Rituale und Wünsche verschieden sind
Wir bekennen: Wir brauchen einander. Wir sind verschieden, doch in Christus verbunden.
Gemeinsam gestalten wir Kirche und Gesellschaft in Gottes Geist.
Wie oft erleben wir: Menschen wenden sich ab, finden Kirche nicht mehr hilfreich, erleben sie als Teil des Problems.
Die Wünsche unserer Konfis zeigen: Kirche wird nur dann relevant, wenn sie gestaltet wird – von allen gestaltet wird.
Kirche ist nicht starr, sondern in Bewegung:
- Kirche beginnt später – und endet früher.
- Aktionen der Nächstenliebe gehören dazu wie Sitzheizungen und Kaffee.
- Jede Generation bringt ihre Fragen ein, Jung und Alt feiern miteinander, gestalten mit – spielerisch, kreativ, ehrlich.
Die Thesen der Konfis sind dabei nicht weniger evangelisch oder katholisch als die von Luther. Sie helfen uns, nicht stehen zu bleiben. Sie erinnern uns, dass Gott ein Gott ist, der Neues schafft und Neues zulässt.
Gestaltungskraft erwächst da, wo wir gemeinsam hinaustreten aus unseren geschützten Räumen, den Glauben leben in Wort und Tat. Also genau das, was Bonhoeffer sagt:
Gott lieben und den Bruder lieben mit jener ersten, leidenschaftlichen, brennenden, alles - nur Gott nicht– aufs Spiel setzenden Liebe?
Wir gestalten mit – auch wenn wir klein sind im Vergleich zu den großen Herausforderungen: Spaltung, Hass, Krieg, Gleichgültigkeit. Doch unser Tun, getränkt von Gottes Geist, macht einen Unterschied. Und wieder erinnern wir uns an Dietrich Bonhoeffer:
Glaube, Buße heißt Gott Gott sein lassen - auch in unserem Tun, gerade in unserem Tun ihm gehorsam sein.
Glaube. Versöhnen. Gestalten. beginnen da, wo Menschen Gottes Wort hören, darauf antworten, Schritte wagen. Und diese Schritte werden sichtbar, hier und jetzt:
In jeder Geste der Offenheit.
In jedem Gespräch, das Gräben überwindet.
Im gemeinsamen Feiern – so wie wir es hier und heute, am Reformationstag, und immer wieder neu tun.
Höre, Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
5. Mose 6,4-5
Es ist ein Bekenntnis, das alle Christinnen und Christen überall verbindet – und auch unser gemeinsamer Gottesdienst ist Ausdruck davon: Im Hören, im Miteinander, im Suchen nach dem, was trägt und zusammenführt. Wir zeigen: Glaube kann verbinden – Konfessionen, Charaktere, Lebenswege. Lasst uns gemeinsam Kirche sein – heute bunt, beweglich, und trotzdem gemeinsam in Christus verwurzelt – mit Couch, mit Lichtshows, mit Kaffee, mit Herz
„Höre, Israel!“, heißt auch: Hört auf die Kinder. Hört auf die Suchenden. Hört auf die, die Kirche neu buchstabieren wollen. Denn Glaube ist lebendig, Versöhnung oft überraschend und Gestaltung nie abgeschlossen.
Während wir hier gemeinsam feiern, blicken wir gleichzeitig auf eine Welt, in der das Verbindende oft verloren geht. Überall erleben wir Spaltung, Misstrauen, Abgrenzung. In Regionen voller Gewalt ist Hass lauter als Versöhnung, Krieg stärker als Verständigung. Oft scheint es unmöglich, Frieden zu schaffen, wo Fronten verhärtet sind, und das Trennende dominiert.
Gerade hier spricht das „Höre Israel“, das auch „Höre Welt“ heißt, eine hoffnungsvolle Einladung aus: Die Liebe zu Gott setzt Kräfte der Versöhnung frei – im Herzen der Menschen, in Familien, zwischen Nationen. Unser gemeinsames Feiern des Gottesdienstes heute ist ein kleiner Widerspruch gegen die Hoffnungslosigkeit: Wir leben und zeigen, dass Gottes Liebe stärker ist als das, was uns trennt. Möge diese Liebe auch in dunklen Zeiten neue Wege zum Frieden eröffnen.
Amen.
Pfarrer Martin Dubberke | Bild: Johannes Dubberke
Predigt am Reformationstag 2025 am 31. Oktober 2025 in der Johanneskirche zu Partenkirchen, Perikopenreihe I mit einer Predigt über Deuteronomium 6,4-9.

