Nach der Epistellesung ist erst einmal wieder die Gemeinde dran – nämlich mit einem Lied, dem Graduallied oder auch Wochenlied. Welche Bedeutung und Herkunft hat eigentlich dieses Graduallied? Warum singt es die Gemeinde zwischen Epistel- und Evangelienlesung? Worauf kommt es beim Graduallied an? Warum ist das Graduallied durch die Agende vorgegeben und wird in der Regel nicht vom Pfarrer ausgesucht?
In der Tat, das Wochenlied – wie das das Graduallied auch genannt wird - ist ein zentrales liturgisches Element mit reicher Bedeutung und langer Geschichte. Es ist thematisch eng mit den biblischen Lesungen und dem kirchlichen Kalender verbunden und hat eine inhaltliche wie auch liturgische Funktion.
Seinen Ursprung hat das Graduallied im Gottesdienst der Alten Kirche, wo wechselnde Psalmgesänge zwischen den biblischen Lesungen üblich waren. Schon im Mittelalter wurde es Brauch, dass ein Lied an den Stufen (lat.: „gradus“) des Lesepults oder Ambos gesungen wurde – daher also der Name „Graduallied“. Die zutreffende deutsche Übersetzung wäre also eher „Stufenlied“. Im Lauf der Kirchengeschichte wurde daraus nach der Reformation ein deutschsprachiges Gemeindelied, das auf das Proprium des jeweiligen Sonntags oder Festtags abgestimmt und inhaltlich auf das Evangelium des jeweiligen Sonntags oder Festtags zugeschnitten ist.
Das Graduallied wird nach dem Halleluja, das der Epistellesung folgt, und vor der Evangelienlesung gesungen. Diese Reihenfolge hat sich entwickelt, weil das Lied wie ein kommentierendes, überleitendes Element zwischen den beiden Schriftlesungen steht. Es nimmt den Inhalt der gelesenen Epistel auf, bereitet die Gemeinde musikalisch und thematisch auf das Evangelium vor und verbindet so die Verkündigung der Schriftlesungen zu einem Ganzen. In dem Moment, in dem die Gemeinde zum Gesang anhebt, beteiligt sie sich aktiv an der gottesdienstlichen Verkündigung. Und genau diese Beteiligung der Gemeinde ist wesentlich: Das Lied soll nicht solistisch oder vom Chor gesungen werden, sondern die Gemeinde zum mitsingenden Handeln anregen, sodass die Gemeinde die Verkündigung musikalisch mitträgt.
Weil das Graduallied diese besondere Bedeutung hat, weil es die Lesungen gewissermaßen deuten und vertiefen soll, ist es nicht vorgesehen, dass der Pfarrer oder Kirchenmusiker das Lied aussucht. Es ist im Gottesdienst das einzige Lied, dass von der Agende vorgegeben wird. Sie bestimmt das Graduallied für jeden Sonn- und Feiertag. Das dient der Einheit und inhaltlichen Stimmigkeit des Gottesdienstes im ganzen Kirchenjahr. Da das Graduallied in engem Zusammenhang mit den anderen Elementen des Propriums steht, wird es in der Regel nicht vom Pfarrer individuell festgelegt. So wird gewährleistet, dass die Gemeinde über Jahre hinweg mit den zentralen Liedern vertraut wird und dass die liturgische Ordnung eingehalten bleibt. Die festgelegte Liedauswahl stärkt somit den gemeinsamen Charakter des Gottesdienstes und die Verknüpfung von Kirchenmusik und Verkündigung.
Pfr. Martin Dubberke
