Predigt - Der Buchspazierer oder Mut zum Wandel

Pfr. Martin Dubberke
Bildrechte Martin Dubberke

Liebe Geschwister, ich möchte Euch heute zwei Menschen vorstellen, die mir in den vergangenen Tagen sehr ans Herz gewachsen sind. Vielleicht, weil ich in ihnen zwei meiner eigenen Seiten wiederentdeckt habe, das Bewahrende und das Hinterfragende. Da ist auf der einen Seite Carl – also Carl Kollhoff. Er ist Buchhändler mit Leib und Seele. So einer, den man bei Amazon und Co nicht findet, wo einem irgendein Algorithmus Bücher vorschlägt. Carl ist so ein Buchhändler von altem Schrot und Korn, wie ich ihn liebe. Er erinnert mich ein wenig an die Buchhandlung, in der ich in meiner alten Heimat Berlin weit über vierzig Jahre Kunde gewesen bin. Eine Buchhandlung, in der man sich unterhalten hat und manchmal ganz überraschende Buchtipps bekommen hat, die wie maßgeschneidert für einen waren. Genauso einer ist Carl. Er kennt seine Kunden und er bringt Ihnen die Bücher der Sehnsucht, Bücher, von denen er glaubt, dass sie das eigene Leben bereichern können, verändern, können, zu Einsichten führen und Sehnsüchten Raum und Gestalt geben. Und er tut noch etwas: er bringt seinen Kunden die Bücher nach Hause. Alles Kunden, die entweder nicht das Haus verlassen, weil sie zurückgezogen leben oder sich nicht in eine Buchhandlung trauen, weil sie nicht lesen und schreiben können, aber eine Sehnsucht nach dem Buch haben. Carl ist nicht mehr der Jüngste. Er ist um die 70 und eigentlich schon im Ruhestand. Aber seine Bücher trägt er noch immer aus, auch wenn es seiner neuen Chefin, der Sabine Gruber, die einst als Kind auch auf seinem Schoß saß, denn ihr Vater Gustav war nicht nur der beste Freund von Carl, sondern auch der Inhaber der Buchhandlung am Stadttor in Münster. Es gibt kaum einen Weg in Münster, den Carl nicht gegangen ist, den sich die Füße Carls nicht eingeprägt hätten, nicht am Pflaster erkennen würden.

Aber Sabine, ist eine andere Generation, sie hat ihre eigenen Konflikte, ihre eigenen Probleme und sie will die Buchhandlung anders führen als ihr Vater es zusammen mit Carl getan hat. Sie will eine moderne Buchhandlung, die die Tradition hinter sich lässt und zeitgemäß ist. Sie will sich von den beiden emanzipieren und eine eigene Buchhändlerin sein. Dass das mit den beiden auf Dauer nicht gutgehen kann, liegt auf der Hand.

Ich liebe Carl, der so in seiner Welt der Bücher lebt. Und wer mein Amtszimmer kennt, kann sich leicht vorstellen, warum das so ist.

Aber es gibt noch eine zweite Person, die ich Euch vorstellen wollte: Schascha – eigentlich Charlotte. Schascha ist acht Jahre jung. Auch sie liebt Bücher. Auch sie hat eine Sehnsucht, denn ihre Mutter ist gestorben und sie lebt allein mit ihrem vollkommen überforderten Vater. Sie beobachtet Carl, wenn er über den Münsterplatz geht, und eines Tages schließt sie sich ihm an und bringt ihn aus dem Konzept, denn sie stellt ihm Fragen. Und sie entwickelt eine ganz eigene Sicht der Welt, mit der sie Carl konfrontiert.

Carl findet sie manchmal süß und manchmal lästig, insbesondere als sie eines Tages plötzlich in das Haus eines seine verschlossenen Kunden rennt.

Und mit einem Male passiert etwas mit diesem jungen und in sich vollkommen verschlossenen jungen und sehr wohlhabenden Mann. Denn auch dieser Mann hat die geheime Sehnsucht nach Kontakt, Beziehung und Menschen.

Carl besucht z.B. eine Frau, die immer eine ganz besondere Art Buch haben möchte. Er nennt sie Effi, nach Effi Briest. So wie er alle seine Kunden nach Romanfiguren benennt, so dass er schon fast nicht mehr ihre wirklichen Namen kennt.

Er ahnt nicht, dass Effi ein dunkles Geheimnis hat, sondern nur, dass sie unglücklich ist. Erst Schascha bringt ihn auf die Spur. Erst mit Schascha wird deutlich, dass Effi ein Opfer häuslicher Gewalt ist und nicht aus ihrem Gefängnis rauskommt.

Sie ist wie der junge, reiche Mann, der in seinem großen Haus gefangen ist. Auch sie ist eine Gefangene.

Aber es gibt noch mehr Gefangene in diesem Roman. Z.B. die Nonne, die nicht mehr ihr Kloster verlässt, weil die Kirche das Kloster schon aufgelöst hat und daraus exklusive und teure Wohnungen machen möchte. Aber die Nonne, weigert sich auszuziehen. Also verlässt sie aus Angst, nicht mehr ins Kloster zurückkommen zu können, nicht mehr das Kloster. Auch sie ist eine Gefangene.

Oder der junge und kräftige Mann, den Carl Hannibal getauft hat, der gefangen ist in seinem Analphabetismus, der aber eine so große Sehnsucht nach Büchern hat.

Auch Frau Langstrumpf, eine ehemalige Lehrerin ist in ihrem Haus gefangen. Einst wurde ihr Ehemann bei einem Unwetter in ihrem Garten von einem Baum erschlagen. Seitdem traut sie sich nicht mehr aus dem Haus.

Oder der Vorleser, der in einer Zigarrenmanufaktur als Vorleser arbeitet und sich nicht traut, seinen eigenen Roman vorzulesen, ist ein Gefangener seiner Angst zu versagen.

Auch Schaschas Vater ist ein Gefangener und ebenso auch Carl, der in seiner Gewohnheit gefangen ist.

Aber auch Schascha ist eine Gefangene, weil der Vater sie nicht alleine rauslassen möchte, aus Sorge, sie auch noch zu verlieren. Aber Schascha ist die erste, die aus ihrer Gefangenschaft ausbricht, auch dann als der Vater ihr Stubenarrest gegeben hat.

Ihr ahnt schon, dieser Roman ist eigentlich ein Befreiungsroman. Schascha ist unwahrscheinlich aufgeweckt, herzlich unkonventionell und genauso, wie es im Kinderevangelium heißt:

Aber Jesus sprach: Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Himmelreich.
Matthäus 19,14

Es ist ja nicht so, dass Carl gleich begeistert, „Ja“ gerufen hätte, als sich ihm Schascha anschloss. Aber er ließ sie mit sich gehen, ohne zu ahnen, dass das sein ganzes Leben verändern würde.

Schascha ist so unvoreingenommen, mit all der Weisheit eines achtjährigen Kindes, dass sie die Fragen stellt, die wir uns oft selbst aus Angst übergriffig zu sein, nicht zu stellen wagen, die aber für den anderen wichtig wären.

Und irgendwie bin ich die ganze Zeit des Lesens nicht das Gefühl losgeworden, dass Schascha wie so ein Engel ist, ein kleiner Bote Gottes, der den Menschen den richtigen Stups gibt, um in die richtige Richtung zu gehen, nämlich den Weg der Freiheit, zu der uns Gott berufen hat.

Schascha ist wie eine kleine aufmüpfige Begleiterin durch das finstere Tal des 23. Psalms. Und all diese finsteren Täler sind die dunklen Täler der Seele. Sie bringt mit ihrer herzlichen Unkonventionalität das Licht in die Seelen der anderen. Sie schafft es auch, genau diese Verbindung zwischen allen Kundinnen und Kunden von Carl zu entdecken. Und sie macht einen tollen Job als Befreiungsengel.

Sie schafft es, dass alle ihre Gefängnisse verlassen. Die Nonne und Effi finden schließlich beim jungen reichen Mann ein Zuhause, der nun nicht mehr alleine Leben muss und jetzt Menschen um sich herum hat, mit denen er gemeinsam über Bücher sprechen kann. Der Mann hat das Leben gefunden und die Gemeinschaft.

Und genau das ist ein weiteres Thema. Die Menschen sind nicht nur Gefangene, sondern auch Einsame. Auch Carl ist so einsam, dass er es all die Jahre nie wirklich gemerkt hat. Erst als Schascha nicht mehr mit ihm geht – sie hat Stubenarrest – und er sich auf die Suche nach ihr macht. Als, er seinen Job verloren hat und nun all seine Bücher verkauft, um neue Bücher für seine Kunden zu kaufen und er sich ausrechnen kann, wann er seinen letzten Buchspaziergang machen kann. Und dann wird er auch noch von Schaschas Vater auf der Straße zusammengeschlagen, weil der glaubt, dass Carl etwas ganz anderes von seiner Tochter will.

Als Carl aus dem Krankenhaus zurückkommt, spürt er zum ersten Mal in seinem Leben seine Einsamkeit. All seine Bücher sind weg. Er malt auf die leeren Regalwände die Buchrücken und ihre Titel. Niemand hat ihn im Krankenhaus besucht. Niemand hat ihn vor dem Krankenhaus in Empfang genommen. Nun hat er nichts mehr. Kein Geld. Er will weniger werden. Er will nur noch sterben. So finster ist das Tal.

Doch er hat die Rechnung ohne Schascha gemacht. Und natürlich hat der Roman ein Happy End.

Aber was ist nun die Botschaft? Wir leben z.B. in einer Kirche, die im Umbruch ist. Wie oft höre ich, dass früher alles besser war, dass früher die Kirche voller war, mehr Menschen gekommen sind, bei Gemeindeveranstaltungen besser gekocht wurde, die Pfarrer mehr bei den Menschen waren und, und, und…

Wir leben aber auch außerhalb von Kirche in Zeiten des Umbruchs, wo wir gewohnte Wege verlassen müssen und uns im Leben neu orientieren müssen.

Ja, wir leben in einer Zeit, in der wir unseren Weg suchen. So, wie Sabine Gruber versucht, die Buchhandlung ihres Vaters mit dem nicht einfachen Erbe, der nicht einfachen Tradition in die Zukunft zu führen. Ich weiß nicht, ob es ihr gelingen wird. Genauso wenig wie ich weiß, ob all die Kirchenreformen, die kirchlichen Veränderungsprozesse gelingen werden. Aber es darf uns nicht daran hindern, uns auf den Weg zu machen.

Der Roman hat mir noch einmal deutlich gemacht, dass, wenn man neue Wege beschreiten möchte, es nur gemeinsam geht, wenn Erfahrung, Tradition, Zukunft, also alte und junge Generation miteinander ins Gespräch kommen, so wie es Schascha und Carl getan haben.

Ich denke, dass Zukunft gelingen kann, wenn man – wie Schascha – in der Lage ist, mutig alles, was ist, zu hinterfragen und hinter allem eine neue Perspektive zu entdecken und sich auf einen neuen Weg einzulassen. Hätte Schascha das nicht gemacht und Carl sich nicht erst widerwillig und dann immer mutiger auf Schascha eingelassen, in der Art wie sie an der einen oder anderen Stelle charmant als Kind, dem man alles verzeiht, über die eine oder andere Grenze gegangen ist, hätte es kein Happy End gegeben. Dann wären alle Gefangene geblieben, dann wäre alles eingefroren geblieben, dann wäre keine erlösende Gemeinschaft entstanden.

Ja, und am Ende, wäre auch Schascha eine Gefangene ihres Vaters geblieben. Nur weil ihm im Kampf auf der Straße Carl „Ronjas Räubertochter“ in die Jackentasche gesteckt hat, änderte sich alles. Diese Szene, als Carl den Mut hatte, durch die Dunkle Gasse von Münster zu gehen, durch die er nie ging, weil sie ihm unheimlich war, erinnert mich ein wenig an die Geschichte vom Kampf am Jabbock: „Ich lasse Dich nicht, es sei, Du segnest mich.“ – Das Buch wurde zum Segen. Schaschas Vater las das Buch und verstand mit einem Male seine Tochter und damit sich selbst. Diese Erkenntnis war für das Happy End von existenzieller Bedeutung.

Dieses Buch ist eine Geschichte über Bücher und wie Bücher das Leben von Menschen verändern können. Auch unser Glaube ist eine Geschichte von Büchern, die das Leben verändert haben und verändern können. Wir müssen nur den Mut haben, uns in diese Bücher im Buch der Bücher zu versenken, einen Bezug zu unserem Leben, zu unserer Zeit zu entdecken, alles wie ein Kind zu hinterfragen und dahinter das Leben, die Freiheit und damit die Zukunft zu entdecken, weil uns dieses Buch der Bücher, die Bibel den Mut macht, in der Gewissheit, dass Gott uns begleitet, neue Wege zu gehen.

Wir erinnern uns an den kleinen Dialog zwischen Schascha und Carl, als sie fragt:

»Gibt es denn kein Buch, das alle Menschen glücklich macht? So wie die Bibel, nur in spannend?«

Carl drehte den Schirm ein wenig, als wäre er ein Queue, den er mit Kreide versehen musste. »Die Bibel ist spannend. Sehr sogar.«

»Menno! Du weißt, was ich meine. Ein Buch, das alle lieben würden.«

Carl schob seinen Hut etwas höher, der Kopf schien ihm ziemlich warm zu werden. »So ein Buch gibt es nicht.

Dem möchte ich widersprechen: Genau deshalb gibt es in der Bibel 73 Bücher, damit für jeden etwas dabei ist. Amen.

Pfarrer Martin Dubberke, Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, 24. Juli 2022 in der Christuskirche zu Garmisch und der Johanneskirche zu Partenkirchen über Carsten Henn "Der Buchspazierer".

Zitat aus Carsten Henn "Der Buchspazierer"Zitat aus Carsten Henn "Der Buchspazierer"Das Buch der Bücher - die Bibel im Bibelmuseum Nürnberg

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Ich musste dieser Tage schmunzeln, als ich über ein Zitat von Dietrich Bonhoeffer gestolpert bin: „Die Zehn Gebote enthalten kein Gebot zu arbeiten, aber ein Gebot, von der Arbeit zu ruhen. Das ist die Umkehrung von dem, was wir zu denken gewohnt sind.“

Selbstverständlich hielt ich beim ersten Teil sofort den Atem an -“kein Gebot zu arbeiten“ - das ist ja eine steile Angelegenheit!?!

Aber dann las ich ja sofort die Sache, mit dem Ruhen von der Arbeit und dem Umdenken.

ANgeDACHT - Weil nichts selbstverständlich ist

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Wir haben viele Gründe, Gott zu danken und es ist gut, dass er uns immer wieder mal daran erinnert, dass nichts weder selbstverständlich noch nur aus uns selbst heraus ist, sondern alles seinen Ursprung bei ihm hat.

Dank ist eine Haltung, eine Lebenseinstellung, die unser Leben verändert. Ich habe dieser Tage einen schönen Satz gelesen:

„Ein Mensch, der dankbar auf sein Dasein blickt, wird anders leben als einer, der ständig das Gefühl hat, zu kurz zu kommen.“

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Predigttext: Mt 27,33–54


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